ED: Prof. Tonkoski, was hat Sie an der TUM und dem Lehrstuhl für Elektrische Energieversorgungsnetze fasziniert?
Prof. Reinaldo Tonkoski: Meine Familie und ich haben München schon immer geliebt. Wir haben die Stadt oft besucht und uns schließlich entschieden, hier unser Zuhause zu schaffen. Beruflich bietet das TUM-Ökosystem ein ausgezeichnetes Umfeld: zahlreiche Institutionen und Einheiten, die sich mit Leistungselektronik, erneuerbaren Energien, Energiespeicherung und Energiemanagement befassen, erstklassige Labore und Ressourcen. Es passt sowohl persönlich als auch beruflich perfekt.
Sie haben viel in Kanada und den USA gearbeitet. Welche Erfahrungen aus diesen Jahren beeinflussen Ihre Arbeit hier?
Während meiner Promotion an der Concordia University in Montreal und meiner Beschäftigung bei CanmetENERGY, Kanadas nationalem Energielabor, arbeitete ich im Rahmen des Photovoltaik-Programms der Internationalen Energieagentur mit Forschenden aus Deutschland, Österreich und Japan zusammen. Diese Erfahrungen prägten meinen Fokus auf die Integration erneuerbarer Technologien in Energiesysteme und vermittelten mir den Wert internationaler Zusammenarbeit. Ich bin außerdem aktives Mitglied des IEEE und habe intensiv in internationalen Arbeitsgruppen zu Themen wie Netzstabilität und Spannungsregelung mitgearbeitet. Die Arbeit in diesen vielfältigen und internationalen Teams erweitert kontinuierlich meine Forschungsperspektive als auch die Art und Weise, wie ich Studierende durch global ausgerichtete Lehre einbinde.
Ihre Forschung konzentriert sich auf die Integration erneuerbarer Energien in Stromnetze. An welchen Projekten arbeiten Sie derzeit?
Ein großes Projekt führen wir am Lehrstuhl gemeinsam mit einem deutschen Übertragungsnetzbetreiber durch. Wir analysieren, wie sich große Wasserstoffanlagen in Norddeutschland positiv oder negativ auf das Netz auswirken könnten. Wir helfen bei der Entwicklung von Richtlinien für den effektiven Anschluss von Elektrolyseuren ohne das Risiko von Stromausfällen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Planung der Blindleistung – entscheidend für die Spannungsstabilität im Netz – und die Verbesserung unserer Modelle, um vorherzusagen, wann ein Systemdesign versagen könnte. Mich interessiert besonders, wie man erneuerbare Energietechnologien besser ins Netz integriert und optimal zum Einsatz bringt.
Eines der großen Ziele ist es, Stromausfälle zu verhindern, wie etwa der Blackout in Spanien dieses Jahr. Ist Ihr Team an der Untersuchung und Prävention solcher Ereignisse beteiligt?
Ja, wir führen Simulationen durch, um die Netzbedingungen zu verstehen, die zu Kettenreaktionen führen könnten. Das ist komplex – etwa ein Kurzschluss, der eine Kettenreaktion auslöst. Wir versuchen sicherzustellen, dass Systeme Fehler verkraften können, ohne zusammenzubrechen. Wenn es zu einem Mangel oder sogar einem Überschuss an Stromerzeugung oder Blindleistung kommt – auch nur kurzzeitig – können Frequenz oder Spannung aus dem Gleichgewicht geraten, was Schutzsysteme auslöst. Das passiert manchmal, wenn Kraftwerke oder Leitungen abschalten. Jedes Abschalten erzeugt ein neues Ungleichgewicht, das weitere Abschaltungen verursachen, wie wir das in Spanien und anderen Stromausfällen gesehen haben. Wenn wir das nicht richtig managen, riskieren wir weitere Blackouts. Wir müssen Ressourcen planen und Steuerungs- und Betriebsstrukturen entwerfen, die das Stromnetz unter den meisten Bedingungen stabil halten, selbst wenn Leitung oder ein Kraftwerk ausfällt.
Welche Herausforderungen ergeben sich bei der Integration verschiedener Technologien für erneuerbare Energien in bestehende Stromnetze, und wie geht Ihre Forschung diese Probleme an?
Wir haben festgestellt, dass Solar- und Windkraftanlagen manchmal unerwartet vom Netz gehen, weil ungenaue oder veraltete Modelle die Bedingungen nicht korrekt vorhersagen, besonders bei dynamischen Netzereignissen. Unsere Forschung konzentriert sich auf die Entwicklung datenbasierter Methoden, um diese Technologien präzise zu modellieren – ohne proprietäre Details zu benötigen – damit sie sicher und zuverlässig in die Netzplanung, Steuerung und den Betrieb integriert werden können.
Es ist wie ein Orchester, bei dem viele Instrumente zusammenspielen – erneuerbare und konventionelle Energien – und jedes verhält sich anders als erwartet, weil wir eine andere Stimmung haben. Ich verwende auch eine andere Analogie: Es ist, als würden ein Gewichtheber und ein Sprinter im selben Wettbewerb (Netzdesign) gegeneinander antreten. Beide brauchen unterschiedliche Bedingungen, um gute Leistung zu bringen. Wenn wir diese Technologien intelligent integrieren, können wir mit dem rasanten Anstieg des Strombedarfs, besonders durch neue Anwendungen wie KI-Rechenzentren, Schritt halten.
Gibt es Kooperationen, auf die Sie sich besonders freuen?
Auf jeden Fall. Wir haben enge Verbindungen zu Netzbetreibern wie TenneT und den Stadtwerken München. Auf internationaler Ebene arbeiten wir regelmäßig mit den Sandia National Laboratories in den USA zusammen, insbesondere in den Bereichen Energiespeicherung und Netzintegration.
Wie begeistern Sie Studierende für komplexe Themen wie Netzsteuerung und Leistungselektronik?
Ich glaube an einen ausgewogenen Ansatz – solide Grundkenntnisse vermitteln und gleichzeitig neue Technologien integrieren. Wir bieten Kernkurse wie „Übertragung und Verteilung elektrischer Energie“ an und arbeiten mit anderen Lehrstühlen zusammen, um das Curriculum der Energietechnik abzustimmen. Labore und praktische Experimente sind entscheidend, um die Studierenden mit neuen Werkzeugen und Methoden vertraut zu machen.
Sie leiten einen Kurs mit dem Titel „Smart Grid und die Energiewende“. Was ist das Besondere daran?
Das ist einer meiner Lieblingskurse! Jede Woche kommen Expert:innen aus der Energiewirtschaft zu uns, um über reale Herausforderungen und Lösungen, die derzeit getestet werden, zu diskutieren. Die Studierenden erhalten direkte Einblicke von Fachleuten und reflektieren diese Diskussionen in Tutorien zu aktuellen Themen. Dies ist eine großartige Möglichkeit, Theorie und Praxis auf dem Weg zur Energiewende zu verbinden. Durch diesen intensiven Austausch lernen die Studierenden nicht nur innovative Lösungen kennen, sondern auch neue Probleme, die daraus entstehen – und bleiben so auf dem neuesten Stand der Entwicklungen.
Der Lehrstuhl für Soziale Determinanten der Gesundheit der TUM bietet in Zusammenarbeit mit Ihnen einen Kurs zum Thema Desinformation an. Worum geht es dabei?
Der Kurs „BuSTED: Building Scientific Literacy to Tackle Misinformation in the Digital Age” befasst sich mit Mis- und Desinformationen in verschiedenen Bereichen. Besonders interessant sind Fehlinformationen rund um Stromausfälle. Wir haben hier Parallelen bei den Beiträgen zur Gesundheit während der COVID-Pandemie gesehen, insbesondere wie Fake News das Vertrauen untergraben können. Da das Stromnetz sehr komplex ist, lassen sich Probleme nicht immer schnell und einfach identifizieren. Ingenieur:innen sind nicht immer ausgebildete Kommunikator:innen, aber sie müssen lernen, besonders in Krisenzeiten mit der Gesellschaft in Austausch zu treten, um das Vertrauen der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten. Der Kurs steht allen TUM-Studierenden offen, von Ingenieurwesen über Medizin bis hin zu anderen Fachrichtungen, und eine neue Ausgabe findet im kommenden Sommersemester statt.
Der IEEE Power & Energy Student Summit ist gerade zu Ende gegangen. Was waren die Höhepunkte?
Den IEEE Power & Energy Student Summit in Garching auszurichten war spannend. Wir konnten unsere Labore präsentieren und Studierende mit Führungskräften aus der Industrie vernetzen. Hochkarätige Sprecher:innen etwa von Siemens Energy und dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT), über 30 Fachbeiträge und eine Postersession, bei der Studierende ihre Arbeiten vorstellten, bereicherten das Event. Die Konferenz richtete sich an junge Fachkräfte, und ihr Engagement von der ersten bis zur letzten Minute war wirklich inspirierend. Wir sind auf die Leidenschaft und Kreativität dieser neuen Generation angewiesen, um die Energiewende erfolgreich zu gestalten. Wir begrüßten über 100 Teilnehmende aus 14 verschiedenen Ländern – ein echtes Zeugnis Münchens Attraktivität und die Begeisterung der Strom- und Energie-Community.