Interview: Cornelia Freund
ED: Herzlichen Glückwunsch zur Professur. Welchen akademischen Weg sind Sie gegangen?
Prof. Paul Kotyczka: Vielen Dank! Nach meinem Studium der Elektro- und Informationstechnik an der TUM war ich auf der Suche nach einer Promotionsstelle. Nach einer kurzen Zwischenstation beim Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften wechselte ich zum 1. Januar 2006 an den damals frisch eingerichteten Lehrstuhl für Regelungstechnik von Prof. Boris Lohmann. Dort konnte ich als Forscher viele neue Ideen entwickeln.
Mit der Promotion 2010 baute ich meine Arbeitsgruppe „Energy-Based Modeling and Control“ auf. Von 2015 bis 2017 war ich dank eines Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiums als Postdoc an der Universität Lyon – eine wertvolle Zeit, die meine berufliche Laufbahn stark beeinflusst hat. 2019 habilitierte ich mich und zum 22. April 2025 hat mich die TUM zum außerplanmäßigen Professor bestellt.
ED: Was weckte Ihr Interesse für Port-Hamiltonsche Systeme und was fasziniert Sie daran?
Prof. Paul Kotyczka: Als Doktorand konnte ich aus vielen aktuellen Themen in der Regelungstheorie wählen. Besonders faszinierte mich die Idee, Energie für die Gestaltung komplexer Regelungssysteme zu nutzen. Unter anderem die Veröffentlichung „Putting Energy Back in Control“ aus dem Jahr 2001 inspirierte mich sehr. Im Lauf der Zeit kamen neben dem Regelungsentwurf neue Schwerpunkte dazu, wie strukturerhaltende numerische Methoden oder Fragestellungen aus der Verfahrenstechnik oder Robotik.
Interessant ist, verschiedene physikalische Systeme in einer einheitlichen, mathematischen Formulierung zu beschreiben und diese Strukturen für Regelungsaufgaben zu nutzen. Und was mich persönlich begeistert, ist, dass ich durch dieses Fachgebiet viel über die Modellbildung verschiedener Systemklassen gelernt habe. Nach dem Studium hätte ich nie gedacht, mich mit der Wärmeübertragung in metallischen Schäumen oder nichtlinearen Kontinuumsmechanik zu beschäftigen. Dass ich ständig Neues lernen kann, zusammen mit Studierenden, Promovierenden und Kolleg:innen, ist ein Privileg und macht mir große Freude.
ED: Für diejenigen, die nicht mit der Materie vertraut sind: Könnten Sie erklären, was Port-Hamiltonsche Systeme sind?
Prof. Paul Kotyczka: Port-Hamiltonsche Systeme sind mathematische Modelle, die zwei wichtige und elegante Konzepte aus der klassischen Mechanik und Elektrotechnik vereinen: Die Struktur der Differentialgleichungen bildet Austausch und Wandlungen der gesamten Systemenergie – der Hamiltonschen – ab. Und so wie in der Netzwerktheorie lassen sich beliebig komplexe Modelle über die Leistungsschnittstellen – die Tore bzw. Ports – modular aus Subsystemen verschiedener physikalischer Natur zusammensetzen.
ED: Weshalb sind Port-Hamiltonsche Systeme in verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen wie Mathematik und Ingenieurwesen von Bedeutung?
Prof. Paul Kotyczka: Sie sind aufgrund ihrer Modularität zunächst für die Modellbildung und Simulation komplexer, gekoppelter Systeme interessant. Gleichzeitig sind numerische Verfahren nötig, die die Modelle konsistent in Bezug auf die Energieflüsse zwischen den Subsystemen halten. Diese Konsistenz wird erreicht, wenn man die richtigen Variablen wählt und korrekt diskretisiert. So kann etwa das Auftreten unphysikalischer numerischer Effekte vermieden werden. Wie eingangs erwähnt, inspiriert die Port-Hamiltonsche Systembeschreibung auch energiebasierte Regelungsentwürfe.
ED: Können Sie Beispiele für praktische Anwendungen von Port-Hamiltonschen Systemen nennen?
Prof. Paul Kotyczka: Der Ansatz ist äußerst vielseitig, besonders für die Modellbildung gekoppelter Systeme wie Energienetze. Für das adaptive Leichtbau-Hochhaus an der Uni Stuttgart mit hydraulisch aktuierter Tragstruktur wurde etwa ein Port-Hamiltonsches Modell für die energieoptimale Regelung genutzt. In der Softrobotik und Medizintechnik können die Kopplungen in elektro-aktiven Polymeren, zum Beispiel für Endoskope, modelliert werden. Eindrucksvoll sind Regelungsmodelle für das Plasma in Tokamak-Reaktoren wie den ITER in Südfrankreich. Das Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) in Paris nutzt Port-Hamiltonsche Modelle, um den Klang alter elektronischer Instrumente digital nachzubilden. Eine lustige (kommerzielle!) Anwendung dazu ist eine Software, die – auf Basis physikalischer Modelle – Musik so abspielt, als käme sie von einer leiernden Kassette aus den 80er Jahren. Auch unser seilaktuierter Kontinuums-Manipulator lässt sich, dual zum Lagrangeschen Ansatz, port-Hamiltonsch modellieren.
ED: Was sind die aktuellen Herausforderungen und wie sehen Sie die Entwicklungen im Bereich der Port-Hamiltonschen Systeme in den kommenden Jahren?
Prof. Paul Kotyczka: Unsere Community vereint Forschende aus den Bereichen Systemtheorie, Regelungstechnik und angewandter Mathematik. Es gibt großartige Initiativen, wie unser Doktorandenkolleg, das nun in die zweite Förderphase geht [siehe Infos unten] und einen frischen Sonderforschungsbereich an der Uni Wuppertal. In den Ingenieurwissenschaften gibt es viel Expertise zu energiebasierten Methoden, ohne das Label „Port-Hamilton“. Dazu kommt leistungsfähige Software, kommerziell und Open Source. Diese Ressourcen sollten wir in Zukunft besser nutzen, um immer komplexere Fragestellungen zu bearbeiten. Wie immer lohnt sich ein Blick über den Tellerrand.
ED: Gibt es zukünftige Projekte, auf die Sie sich besonders freuen?
Prof. Paul Kotyczka: Ja, ich freue mich sehr auf ein Projekt mit Prof. Peter Betsch vom Karlsruher Institut für Technologie, das sich mit der Modellbildung und Regelung für Systeme mit irreversiblen Prozessen befasst.
Ein für mich neues Forschungsgebiet dreht sich um regenerative Energienetze und deren Regelung. Dazu entstand letztes Jahr eine Kooperation mit Prof. Anca Hansen und Prof. Kaushik Das vom Department of Wind and Energy Systems an der DTU. Auch mit meinem TUM-Kollegen Dr.-Ing. Anurag Mohapatra vom Lehrstuhl für Erneuerbare und Nachhaltige Energiesysteme bin ich im Austausch – das CoSES-Labor bietet viele spannende Fragestellungen und Anwendungsmöglichkeiten zu Regelungsproblemen der Energiewende. Einerseits ist das thematisch ein „Zurück zu den Wurzeln“, andererseits lerne ich wieder Neues – eine schöne Perspektive.
Weitere Informationen:
Deutsch-Französisches Doktorandenkolleg zu Port-Hamiltonschen Systemen
Das von der Deutsch-Französischen Hochschule geförderte Doktorandenkolleg richtet sich an Doktorand:innen aus Deutschland, Frankreich und den Partnerländern Niederlande und Österreich, die sich mit strukturierten, energiebasierten Methoden zur Modellierung, numerischen Approximation und Regelung multiphysikalischer Systeme beschäftigen. Es fördert die Zusammenarbeit zwischen Forschungsgruppen in den beteiligten Ländern, bietet einen institutionellen Rahmen für eine strukturierte Ausbildung und unterstützt die Mobilität des wissenschaftlichen Nachwuchses. Die halbjährlichen Workshops sind offen für alle Interessierten.
Spring School on Theory and Applications of Port-Hamiltonian Systems
Auf der internationalen Frühjahrsschule, die mit dem Bayerisch-Französischen Hochschulzentrum veranstaltet wird, erhalten seit 2019 Doktorand:innen, PostDocs und fortgeschrittene Masterstudierende aus den Ingenieurwissenschaften und der angewandten Mathematik, eine Einführung in die Port-Hamiltonschen Systeme sowie aktuelle Forschungsthemen und Anwendungen. Die nächste Frühjahrsschule findet 2028 statt.