Mathematisches Denken + Sinn für Praxis = neue Anwendungsfelder. Das ist die „Formel“ von Renate Sachse, die ihre Dissertation mit dem Titel „Variational Motion Design for Adaptive Structures“ erstellt hat. Sie hat eine innovative mathematische Methode entwickelt, von der künftig nicht nur das Bauwesen, sondern auch die Luft- und Raumfahrt, die Robotik und die Medizintechnik profitieren können. Dafür wurde die Ingenieurwissenschaftlerin am 27. Juni 2022 mit dem Bertha-Benz-Preis der Daimler und Benz Stiftung ausgezeichnet, der mit 10.000 Euro dotiert ist.
„Die neue Methode kann ohne tiefergehendes Ingenieurwissen genutzt werden“, erklärt Sachse, „man kann damit relativ einfach die optimalen Bewegungen für flexible Strukturen berechnen.“ Konkrete Anwendungsfelder fänden sich im Bauwesen, wenn deformierbare Fassadenelemente für Gebäude oder ausfahrbare Stadiondächer konzipiert werden sollen. „Damit lässt sich insbesondere in der boomenden Bauwirtschaft, wo viel Material und Ressourcen verbraucht werden, Energie einsparen.“ Die mathematischen Grundlagen könnten außerdem in der Luft- und Raumfahrt zur Erforschung beweglicher Tragflächen von Flugzeugen oder der Entfaltung von Satelliten nach ihrer Reise ins All genutzt werden. In der Robotik und Medizintechnik ließen sich Bewegungsabläufe flexibler Softroboter und medizinischer Stents unkompliziert simulieren.
Inspiration für ihr Promotionsthema an der Fakultät Bau- und Umweltingenieurwissenschaften der Universität Stuttgart fand die Bauingenieurin in einem interdisziplinären Bionik-Projekt. Architekt:innen, Biolog:innen und Ingenieur:innen analysierten die Bewegungsmechanismen von Pflanzen, um sie auf technische Elemente zu übertragen. Sachse: „Durch das fachübergreifende Arbeiten haben wir methodisch viel voneinander und natürlich fachlich für unsere jeweiligen Disziplinen gelernt.“ Das Innovative an der preiswürdigen Methode des optimierten Bewegungsentwurfs ist, dass sich der Verformungsprozess unabhängig von der Geometrie der jeweiligen Strukturen simulieren lässt. Berechnungen können damit anhand gewünschter Zielvorgaben ausgerichtet werden: maximale Energieeffizienz, reduzierter Materialverschleiß oder Minimierung der benötigten Kräfte. Auf rein formalisierte Weise lassen sich schließlich optimierte Bewegungsmuster zwischen der Anfangsund der vorgegebenen Endgeometrie einer Struktur ermitteln. Gerade wegen der breiten Anwendbarkeit erschien die Dissertation für die Jury der Daimler und Benz Stiftung als besonders preiswürdig. Der Preis steht für Neugierde, Mut, Durchhaltevermögen und Pioniergeist im Sinne der Namensstifterin Bertha Benz, die im Jahr 1888 die weltweit erste Fernfahrt in einem Automobil unternahm. „Für mich ist es eine Ehre, von der Daimler und Benz Stiftung für die gesellschaftliche Bedeutung meiner Grundlagenarbeit ausgezeichnet zu werden.“ Sachse hofft, dass der Bertha-Benz-Preis auch dazu beiträgt, Mädchen bereits im Schulalter für ingenieurwissenschaftliche Studiengänge zu begeistern.
Profil von Dr.-Ing. Renate Sachse, Lehrstuhl für Numerische Mechanik
Link zur Pressemitteilung der Daimler und Benz Stiftung