Praxisnah studieren und anderen helfen: Maschinenwesen-Studierende entwickeln Handprothese

Projekte, Studium, Forschung |

Studierende der TUM School of Engineering and Design (ED) entwickeln eine hoch individualisierte Handprothese. Die Prothese zeichnet sich durch eine besonders leichte Bauweise und eine individualisierte Steuerung aus. Betreut werden die Studierenden von Dr. Anand Suresh. Er ist Robotik-Experte am Lehrstuhl für Produktentwicklung und Leichtbau im Department of Mechanical Engineering.

Video: Severin Schweiger / TUM

Portrait von Dr. Anand Suresh
Dr. Anand Suresh vom Lehrstuhl für Produktentwicklung und Leichtbau. Bild: Severin Schweiger / TUM
Thomas Wegerer sitzt vor Alessia und testet die Steuerung der Handprothese
Der Maschinenwesen-Student Thomas Wegerer testet die Handprothese an Alessia. Bild: Severin Schweiger / TUM
Anpassung der Prothese an die Hand von Alessia
Anpassung der Prothese an die Hand von Alessia. Bild: Severin Schweiger / TUM

Text: Susanne Höcht, Bilder und Video: Severin Schweiger

„Ich kann dir helfen“, sagte Anand Suresh zu Alessia, als sie sich vor einem Jahr auf einer Feier kennenlernten. Alessia wurde mit einer Fehlbildung an ihrer rechten Hand geboren. Ihre Hand ist nur teilweise ausgebildet und ihre Finger sind nur im Ansatz vorhanden. Entsprechend kann Alessia ihre rechte Hand nur eingeschränkt nutzen. Sie lernte mit ihren Einschränkungen umzugehen, indem sie ihre linke Hand mehr benutzt oder ihren ganzen Körper einsetzt. Als Anand deshalb an jenem Abend vorschlug, eine Handprothese zu entwickeln, war das für Alessia eine große Überraschung. 

Die Herausforderung bei der Herstellung einer Handprothese liegt in Alessias Fall am hohen Individualisierungsgrad. Bei normalen Handprothesen gibt es standardisierte Einheitsgrößen. Die Bauweise ist zudem nur für Menschen mit einer vollständigen Handamputation geeignet. Hier ist mehr Spielraum zur Anpassung einer Standardprothese als in Alessias Fall möglich, und diese Toleranz steht bei einer Handprothese für sie nicht zur Verfügung. Zudem biegen sich ihre vorhandenen Fingeransätze in einem anderen Winkel als gewöhnlich und schränken somit die Bewegung der Prothesenfinger ein. Hinzu kommt, dass die Muskeln an ihrem Unterarm geschwächt sind. Eine elektronisch gesteuerte Prothese ist für Alessia somit nicht nur aus Gewichtsgründen schwierig zu tragen. Auch können kaum Signale an die Elektroden in der Prothese weitergegeben werden, um die in den Muskelsträngen erzeugte elektrische Spannung zu übersetzen. Das ist aber für die Funktion der elektrischen Prothese essenziell, denn nur so wird die Hand je nach Bedarf geöffnet oder geschlossen.

Anand Suresh hielt die Entwicklung einer hoch komplexen und individuellen Handprothese eine gute Gelegenheit für Studierende, um ihr Wissen aus dem Studium in der Praxis anzuwenden. Er betreut deshalb Studienarbeiten zu diesem Thema am Lehrstuhl für Produktentwicklung und Leichtbau. Einer der ersten Studenten war Thomas Wegerer. Er studiert im Master Maschinenwesen und entwickelte im Rahmen seiner Semesterarbeit den ersten Prototypen der Handprothese für Alessia. Unter Anands Anleitung führte Thomas umfangreiche 3D-Scans und -Modellierungen von Alessias Hand durch, um eine individuell zugeschnittene Konstruktion zu entwickeln. Er konstruierte ein völlig neues Fingerdesign, das für den 3D-Druck im Stereolithografieverfahren (SLA) geeignet ist. Er realisierte praktikable Benutzer- und Prothesenschnittstellen, stellte die elektronischen Baukomponenten zusammen und programmierte die Funktion der Hand. Fast monatlich traf er sich mit Alessia, um die Prothese anzupassen und ihr Feedback einzuholen.

Mit diesem ersten Prototyp kann Alessia nun größere Objekte greifen. Der Prototyp ist trotz der elektronischen Steuerung sehr leicht und auf die Handstruktur von Alessia angepasst. „Extrem cool“, findet Alessia dieses Basisdesign. Für die Weiterentwicklung der Handprothese wünscht sie sich einige Verbesserungen: Neben kosmetischen Aspekten mit weniger Kabeln, sollte aus ihrer Sicht der Tragekomfort und die Handhabung beim An- und Ausziehen verbessert werden. Auch wünscht sie sich eine wasserfeste Konstruktion, um mit der Hand auch mal Geschirr abspülen zu können.

Anand fokussiert sich gemeinsam mit seinen Studierenden zudem auf die technische Verbesserung der Prothese. Eine Herausforderung liegt noch im Daumen. Sämtliche Bewegungsmuster der Mittelhand sind bei Alessia im Daumen angelegt. Allerdings ist ihr Daumen nur im Ansatz vorhanden. Diese Eigenschaft von Alessias Hand möchte Anand zu seinem Vorteil nutzen, anstatt es zu umgehen. Er möchte eine Prothese konstruieren, die mit dem vorhandenen Daumenansatz zusammenarbeitet. Damit soll Alessia in Zukunft auch komplexe Aufgaben mit ihrer rechten Hand ausführen können, zum Beispiel Fleisch schneiden.

Thomas Wegerer hat währenddessen seine Semesterarbeit mit dem ersten Prototyp der Handprothese erfolgreich abgeschlossen und an seine Nachfolgerin und Kommilitonin Elisa Schärer übergeben. Für Thomas war das Projekt nicht nur aus technischer Sicht spannend: „Mit dieser Arbeit hatte ich die Möglichkeit, jemandem in seinem Alltag zu helfen und die kreative sowie technische Freiheit, das gesetzte Ziel zu erreichen.“ Die Entwicklung von Prothesen ist für Thomas eine schöne und erfüllende Aufgabe.

 

Zur Person:

Dr. Anand Suresh beschäftigte sich schon vor seinem Studium mit der Robotik. Bevor er von 2014 bis 2018 seine Doktorarbeit im Bereich Bioingenieurwesen und Robotik an der Universität Genua erfolgreich abschloss, erhielt er einen doppelten Masterabschluss der Universitäten Warschau und Nantes.

Seit 2018 arbeitet er als Postdoc am Lehrstuhl für Produktentwicklung und Leichtbau im Department of Mechanical Engineering. Dort leitet er die Forschungsgruppe „Robot Systems“. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt liegt in der menschzentrierten Roboterentwicklung.

 

Links:

Profil von Dr. Anand Suresh:
https://www.mec.ed.tum.de/lpl/mitarbeiterinnen-und-mitarbeiter/profile/anand-suresh/

Lehrstuhl für Produktentwicklung und Leichtbau:
https://www.mec.ed.tum.de/lpl

Robotikforschung am Lehrstuhl für Produktentwicklung und Leichtbau:
https://www.mec.ed.tum.de/lpl/forschung/forschungsgruppen/robot-systems/

Über den Studiengang Maschinenwesen, M.Sc.:
https://www.ed.tum.de/ed/studium/studienangebot/maschinenwesen-m-sc/